Gänsehautmomente von einer neuen Dimension

11.Etappe 30.05.23 – 24.06.23 1380 km 21800 M ↑ 84 h

Nach meinem unerwarteten Fernseherfolg und den bewegenden Begegnungen in „Bogota“ machte ich mich auf den Weg nach „Cali“, vorbei an der berühmten Kaffeeregion Kolumbiens. Beim Verlassen der Stadt wurde ich von mehreren Leuten angesprochen, die mein Interview im Fernsehen gesehen hatten und ein Foto mit mir machen wollten. Dieses Spiel setzte sich mal mehr mal weniger auf meiner ganzen Reise bis zur ecuadorianischen Grenze fort. Im Vorbeifahren fragte mich ein Mopedfahrer, ob ich der Deutsche mit dem Fahrrad sei? Teilweise waren es tolle und nette Begegnungen mit anderen fahrradbegeisterten Menschen, die meine Tour interessant oder meine Geschichte berührend fanden. Ab und zu kamen jedoch Leute in den unpassendsten Situationen auf mich zu, und unterbrachen ziemlich unhöflich Gespräche mit anderen Personen, nur um schnell ein Foto mit mir zu machen.

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Das ist dann wohl die Kehrseite des Bekanntseins. Bis auf wenige Begegnungen hielt sich das zum Glück in Grenzen. Es war jedoch richtig schön, dass ich immer wieder von Menschen zum Essen oder Übernachten eingeladen wurde. An dem Tag, als ich „Bogota“ verließ, bekam ich beispielsweise von Alejandra eine Nachricht, dass sie mein Fernsehinterview gesehen hatte und es so berührend fand, dass sie mich zur Entspannung in das Hotel, in dem sie arbeitete, einlud. Sie leitet in diesem Hotel den Spa-Bereich und wollte mir etwas Gutes tun. Da ich als Fahrradfahrer viele Strapazen erleiden und mit meiner Botschaft so vielen Menschen helfen würde, wäre es ihrer Ansicht nach das Mindeste, mich für zwei Tage in das Wellnesshotel einzuladen. Da das Hotel in der Kaffeeregion Kolumbiens, nahezu auf meinem Weg nach „Cali“ lag, bot sich diese Gelegenheit perfekt an und ich sagte ihr überglücklich zu. Diese Nachricht hat mich so gefreut, dass ich es erst gar nicht glauben konnte. Dass mir ein Mensch einfach so, ohne mich zu kennen, einen Wellnesshotelaufenthalt schenkt, war schon etwas ganz Besonderes.

Wer schon einmal Kolumbien durchquert hat, weiß, dass es ständig bergauf und bergab geht. Von „Bogotá“ aus fuhr ich zunächst über 2000 Höhenmeter bergab. Das Wetter änderte sich von nasskalt zu tropischer Hitze. Es ging durch eine Tiefebene und nach wenigen hundert Kilometern wieder bergauf, um den Gebirgszug der zentralen Kordilleren zu überwinden.

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Zur besseren Vorstellung eine kurze geografische Erklärung:

Kolumbien lässt sich in 7 verschiedene geografische Landschaften unterteilen, die vereinfacht gesehen von Norden nach Süden durchlaufen. Es beginnt mit der Pazifikküste im Westen, den sich daran anschließenden westlichen Kordilleren, danach einer großen Beckenlandschaft, in der beispielsweise „Cali“ liegt. Dann folgen die zentralen Kordilleren, eine weitere Beckenlandschaft, sowie die östlichen Kordilleren, auf deren vorgelagerter Hochebene „Bogotá“ liegt. Den größten Anteil der Landesfläche nimmt das östliche Tiefland ein, welches vom Amazonasbecken bis zur Karibikküste reicht. Bildhaft kann man es sich leichter wie eine Hand mit drei abgespreizten Fingern vorstellen. Wenn man vom Mittelfinger den Zeige- und Ringfinger abspreizt, entsprechen die drei Finger jeweils den Gebirgszügen, die sich nach Süden zu den Anden vereinen. Die Zwischenräume sind die jeweiligen Täler, beziehungsweise Beckenlandschaften.

Auf dem Weg nach „Cali“ fuhr ich mehrere Hundert Kilometer durch die Tiefebene auf die zentralen Kordilleren zu. Vor dem Überqueren des Gebirgszuges liegt die Stadt „Ibagué“. Kurz vor der Stadt lernte ich Fabian kennen, der auf seiner morgendlichen Rennradtour war. Obwohl ich deutlich langsamer war, begleitete er mich ins Stadtzentrum und lud mich zu sich nach Hause ein.

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Der in dieser Region für ihre Länge und Steilheit bekannte Passstraße „Alto de la Linea“ führt von „Ibagué“ aus, knapp 90 km nach „Armerina“, auf der anderen Seite des Gebirgszuges. Knapp 60 km geht es knapp 3000 Höhenmeter bergauf auf ungefähr 3300 Meter Höhe – eine ziemliche Herausforderung.

Kleiner Funfact: Nur 50 km weiter nördlich liegt die Passstraße „Alto de las Letras“, die mit 80 km durchgehender Ansteigung die längste Passstraße der Welt ist. Mit über 3300 Metern Höhenunterschied, ist sie für Radfahrer der ganzen Welt eine beliebte Herausforderung, die viele einmal im Leben bestreiten wollen.

Da ich erst später davon erfuhr, musste ich mich mit dem etwas kleineren Pass zufriedengeben.

Zurück zu Fabian in „Ibagué“. Da es an diesem Nachmittag weltuntergangsartig regnete, verbrachte ich den Nachmittag bei Fabians Familie und übernachtete dort.

Am nächsten Morgen um 6 Uhr in der Früh machte ich mich auf den Weg, die 60 km lange Bergauffahrt zu meistern. Fabian hatte mir erzählt, dass sein persönlicher Rekord mit dem Rennrad bei 3,5 Stunden lag. Sein Rennrad ist im Vergleich zu meinem vollbepackten Dickschiff das reinste Fliegengewicht. Ich bin zwar fit aber mit über 50 kg bergauf zu strampeln ist gefühlt so, als würde sich jemand mit Rollschuhen an meinem Fahrrad festhalten. Je steiler es wird, desto mehr zieht einen das Gewicht nach hinten.

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Die wunderschöne Landschaft entschädigte mich jedoch für alle Qualen. Auf der Fahrt erblickte ich die berühmten höchsten Palmen der Welt, die nur unter diesen Klimabedingungen auf über 2000 Metern Höhe wachsen. Mit bis zu 60 Metern Höhe sind sie ziemlich beeindruckend. Nach knapp 6 Stunden Fahrradfahren und einigen Verschnaufpausen stand ich verschwitzt aber glücklich an der Spitze des Passes auf 3300 Metern Höhe. Im Tal hatte es noch um die 30° C und oben am Pass angekommen war die Temperatur auf 9 °C gesunken. Für die Abfahrt, warm eingepackt, folgte dann die belohnende Abfahrt. Die Straße war in hervorragendem Zustand und ich konnte ohne Angst vor Schlaglöchern problemlos hinunterfahren. An einigen LKWs, die mich zuvor überholt hatten, schoss ich voller Genugtuung vorbei und kam eine halbe Stunde später im Tal an. Am Abend war ich echt stolz, meinen neuen privaten Rekord aufgestellt zu haben und schlief in dem Wissen, bald in einem Wellnesshotel verwöhnt zu werden, wie ein Baby ein.

Am nächsten Tag traf ich im 60 km entfernten „Pereia“, Alejandra. Hier lebt sie zusammen mit ihrem Mann Johanny und ihrem 11-jährigen Sohn Samuel. Alejandra empfing mich herzlich, als würden wir uns schon immer kennen. Wir fuhren zu ihrer Familie nach Hause, aßen zu Mittag und lernten uns besser kennen.

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Am Nachmittag fuhren wir gemeinsam zum Hotel und ich bekam gleich meine erste Behandlung – eine zweistündige Therapiemassage. Ich kann mich an nicht mehr viel erinnern, da ich nach wenigen Minuten wie in Trance gefallen bin und erst wieder zu mir kam, als alles vorüber war. Trotz Massage schlief ich in dieser Nacht sehr unruhig. Irgendetwas hatte die Behandlung in mir aktiviert aber mich noch nicht vollkommen entspannen lassen. Am nächsten Tag genoss ich das super leckere Frühstück und den wunderschönen Garten des Hotels. Ich konnte so richtig die Seele baumeln lassen und Energie tanken. Am Nachmittag folgte noch eine Wellness-Gesichtsbehandlung mit allen möglichen Cremes und abschließend eine 2 – stündige Vierhandentspannungsmassage, die nun wirklich alle Blockaden und Verspannungen löste. In dieser Nacht schlief ich tief und fest und wachte am nächsten Morgen erst 12 Stunden später auf. Nach zwei Tagen war der Aufenthalt im Hotel leider schon wieder vorüber. Ganz ehrlich, hätte ich das sicher noch ein paar weitere Tage aushalten können. Am Abend des zweiten Tages lud Alejandra noch Freunde der Familie ein, um mich ihnen vorzustellen. Einer war Psychologe und total angetan von mir und meiner Geschichte. Er meinte, dass er mich gerne als Beispiel verwenden wolle, um seine Patienten zu inspirieren und zu motivieren. Das freute mich so sehr, denn dadurch wird meine Botschaft auch durch andere immer weitergetragen. Der Abend und die Gespräche waren richtig toll und es herrschte eine wunderbar positive Energie im Haus.

Bevor ich am nächsten Morgen abreiste überreichte mir Johanny noch eines seiner alten Polizeiabzeichen. Er spielte über die Musikanlage einen Polizeimarsch und übergab mir feierlich sein Abzeichen, welches er nach 10 Jahren Einsatzzeit und vorbildlichem Verhalten überreicht bekommen hatte. Das war schon ziemlich cool und eine große Ehre. Auch wenn ich Alejandra und Johanny erst wenige Tage kannte, hatten wir eine sehr freundschaftliche Verbindung, so als wären wir schon seit langem sehr gut befreundet.

Die folgenden 250 km bis „Cali“ verliefen ziemlich entspannt. Da „Cali“, wie vorhin beschrieben, in einer Tiefebene liegt und es topfeben voranging, fühlte ich mich schon beinahe faul, als am Ende des Tages nur wenige hundert Höhenmeter auf meinem GPS-Gerät standen.

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Ähnlich wie Alejandra, schrieb mich nach meinem Fernsehinterview Andrés, ein professioneller Radsportler an und lud mich zu sich auf einem Café ein. Er wohnt in „Palmira“, einer Kleinstadt ungefähr 20 km von „Cali“ entfernt. Kurz bevor ich „Palmira“ erreichte, schrieb ich ihm, dass er mir mit seinem Rad entgegenfahren könnte. Ich schickte ihm eine Stadtortmeldung über Google Maps, aber kurz darauf bewegte sich mein Standort nicht mehr weiter. Nach über 4000 km hatte ich einen Platten. Seitdem ich in Mexiko auf Fahrradschläuche mit integriertem Pannenschutz umgestiegen war, hatte ich keine Probleme mehr. Da mein Hinterreifen nun ziemlich abgefahren war, kamen Glassplitter leichter durch den Gummi und durchbohrten den Schlauch. Irgendwie war das schon aufregend und etwas Besonderes nach so langer Zeit wieder einmal einen Schlauch wechseln zu müssen. Andrés, der schon etwas Schlimmeres vermutet hatte, kam mit seinem Motorrad um nach mir zu schauen. Da ich den Schlauch schon gewechselt hatte und weiterfahren konnte, begleitete er mich und gab mir Geleitschutz. Obwohl die Autobahn dort einen Seitenstreifen hat, war das sehr angenehm. In „Palmira“ angekommen, bat ich Andrés mit mir einen Fahrradhändler aufzusuchen, da zu meiner kleinen Panne auch eine Speiche gebrochen war und der Hinterreifen zentriert werden musste. Ein guter Radfahrfreund und ehemaliger Teamkollege von Andrés betreibt einen Fahrradladen. Aufgrund seiner Erfahrungen aus dem Profisport, erkannte er sofort einige Probleme und behob diese umgehend. Auch die Felge wurde professionell repariert. Ich habe mittlerweile einige Fahrradservices machen lassen, aber bei keinem wurde so aufs Detail geachtet wie hier. Mittlerweile war auch Andrés 15-jähriger Sohn Samuel eingetroffen, der sehr gut Englisch sprach und mir beim Übersetzten half. Alle Mitarbeiter, Andrés und sein Sohn begutachteten begeistert mein Fahrrad mit all dem Gepäck. Teure Carbon Rennräder im oberen 4-stelligen Dollarbereich waren für sie alltäglich, aber solch ein Fahrrad war etwas ganz Neues für sie.

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Am Abend lernte ich dann auch noch Andrés Frau Diana kennen, die als Physiotherapeutin arbeitet und mir gleich ein paar präventive Übungen zur Stärkung meines Rückens zeigte. Ursprünglich nur auf einem Café, wurde ich schlussendlich zum Übernachten eingeladen und am nächsten Tag bestand die Familie darauf, dass ich auch noch eine weitere Nacht bleiben sollte. Andrés erstaunte mich sehr. Trotz seiner 45 Jahre fährt er immer noch für das kolumbianische Nationalteam Fahrrad. Zwar nicht mehr in allen Bereichen wie vor einigen Jahren, aber er fühlt sich noch fit, überaus motiviert und könne es noch mit deutlich jüngeren Rivalen aufnehmen, sagte er überzeugt. Wichtig sei eine hohe Trainingsdisziplin und die Begeisterung für den Sport. Seine Flamme lodere noch stark und wenn das nachlasse, sei es an der Zeit im Profisport kürzer zu treten. Parallel arbeitet er als Juniorentrainer und möchte nach seiner aktiven Zeit eine Stiftung gründen, die mittellosen Kindern und Jugendlichen mithilfe des Radsports neue Möglichkeiten und Perspektiven im Leben eröffnet. Als ehemaliger Leistungssportler im Rudern, kann ich mich sehr gut in Andrés hineinversetzen und teile dieselben Auffassungen. Willenskraft und Motivation können im Leben alles ermöglichen. Solange man wirklich will und hart dafür arbeitet, kann man nahezu alles Schaffen.

Am nächsten Tag begleitete ich Andrés zu einem seiner Junioren Trainings.  Gemeinsam fuhr ich mit ihm auf seinem Trainermotorrad, ausgestattet mit allerhand Warnlichtern für den rückwertigen Verkehr und mit Lautsprecheranlage, damit er seine Befehle und Anmerkungen geben kann. Ich fühlte mich etwas nostalgisch an meine Ruderzeit zurückversetzt. Als Trainer trat Andrés konsequent und bestimmt aber auch mitfühlend, respektvoll und sehr motivierend auf. Das hätte ich mir in meiner Vergangenheit auch gewünscht. Ich glaube die Kinder schätzen ihn sehr und geben ihr Bestes, was auch an ihren Ergebnissen zu sehen ist. Erst zwei Tage nach meinem Besuch hatten die Kinder ein Rennen. Zwei von ihnen standen auf dem Siegertreppchen, was mir Andrés stolz berichtete. Nach zwei Tagen, an denen ich mich vom ersten Moment herzlich aufgenommen gefühlte, verabschiedete ich mich von Andrés, Diana und Samuel. Nach so kurzer Zeit hatte mich die Familie und ich sie, in mein Herz geschlossen. Genauso wie Alejandra und Johanny, hoffe ich, sie in der Zukunft irgendwann wieder zu sehen.

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Immer wieder treffe ich auf meiner Tour andere Reisende, die mich fragen, ob das ständige Weiterfahren auf Dauer nicht zu blöde sei?  Außerdem könne ich ja keine tiefen Kontakte und Freundschaften aufbauen, weil ich nicht lang genug Zeit hätte Menschen kennen zu lernen. Dazu kann ich immer nur sagen, dass es zwar stimmt und es schöner wäre, wenn man mehr Zeit mit tollen Menschen verbringen könnte, bevor ich wieder weiterreise. Wichtig ist aber auch, dass nicht die Zeit, die man mit einem Menschen verbringt, sondern vorallem die Qualität und Intensität der Zeit, die man hat, entscheidend ist. Ich kenne manche Menschen schon seit vielen Jahren, weiß aber nicht mal ansatzweise so viel über sie, oder sie von mir, wie bei neuen aber tiefgründigen Freundschaften.

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Als ich in „Cali“ ankam fuhr ich direkt zum bekannten Wahrzeichen der Stadt. An der „Iglesia Ermita“ wartete schon ein lokales Fernsehteam auf mich. Um alles fehlerfrei auf Spanisch aufzusagen, waren einige Takes nötig. Immerhin hatte ich zwei Stunden kostenlosen Spanischunterricht. Nach dem Interview führte mich das Team noch etwas durch die Stadt. Nicht umsonst gilt „Cali“ als die Hauptstadt des Salsa. Schier an jeder Straßenecke dreht sich alles um die Musik und das Tanzen. An meiner Unterkunft angekommen, lud mich mein Host ein am Abend in die Stadt zu gehen und Salsa zu tanzen. Am Wochenende mutiert das ganze Stadtzentrum zur Tanzfläche. Alle Bars sind geöffnet und stellen die Lautsprecher auf die Straßen. Trommelgruppen spielen die Salsa-Rhythmen und von jung bis alt versammelt sich die ganze Stadt zum Feiern. Das war ein tolles Gefühl! Der einzige Haken daran war, dass ich kein bisschen Salsa, geschweige denn Tanzen kann. Meine Einschränkungen mit der linken Seite und auch mein schlechter Gleichgewichtssinn waren immer eine gute Ausrede. Da ich aber viel Spaß habe mich zu Rhythmen zu bewegen und das Thema endgültig angehen wollte, meldete ich mich am nächsten Tag zu einem zweistündigen Tanzkurs bei einer Salsa Meisterin an. Die erste Stunde war noch ziemlich holprig und herausfordernd, aber von Zeit zu Zeit klappte es immer besser und zum Schluss tanzte ich ein Lied mit meiner Lehrerin, die mit mir sehr zufrieden war. Wenn man Tänzern zusieht, wirkt es immer so leicht und spielerisch. Ich habe das komplett unterschätzt und war nach der Zeit fix und fertig, aber stolz und zufrieden mit mir auch diese Herausforderung angegangen zu sein und zu merken, dass es einen unfassbaren Spaß macht zu tanzen. In Deutschland möchte ich das auf jeden Fall öfter machen.

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Nach dem Wochenende in „Cali“ führte mich mein Weg weiter in den Süden des Landes. Schon mehrere Monate, bevor ich nach Kolumbien gekommen war, hatte ich regelmäßig Kontakt zu Andrés Ordonez, der ursprünglich aus „Popayan“ einer Stadt 200 km südlich von „Cali“ direkt an der Panamericana liegend, kommt. Andrés ist ein sehr guter Freund meiner Schwester Kim. Sie ist derzeit für ein Jahr zusammen mit ihrem Partner in Australien. Dort haben sie Andrés, der auch auf Reisen ist, kennen gelernt. Er verfolgte meine Reise auf Instagramm und versprach mir, bei sich zuhause in „Popayan“ unterzukommen.

Um auf meinem Weg nach „Popayan“ nicht durchgehend entlang der starkbefahrenen Panamericana zu fahren, entschied ich mich für kleine Nebenstraßen nahe der Berge. Bevor ich nach Kolumbien kam, wurde mir berichtet, dass es im Süden rund um „Cali“ sehr gefährlich sei und dort das Hauptkokainanbau und Kartellgebiet des Landes wäre. Leider hatte ich das vergessen und freute mich über die kleinen ruhigen Straßen. Nur hin und wieder fuhren neue und teure Pickup Trucks in einem affenzahn an mir vorbei. Als ich in einem Restaurant zu Mittag aß, sprachen mich die Bediensteten an und wiesen darauf hin, dass die Region nicht ganz ungefährlich sei. Als ich fragte, ob es hier Narcos (spanische Kurzform für Dealer oder Drogenhändler) gäbe, wiesen sie mich an, leise zu sprechen und aufzupassen was ich sagen würde. Das Wort „Narco“ ist die Kurzform für „Narcotraficante“, was: „Drogenhändler“ oder „Rauschgifthändler“ bedeutetet. In diesem Zug wird auch immer von „Narcotráfico“ gesprochen womit der „Drogenhandel“ oder „Rauschgifthandel“ gemeint ist. Sie sagten ich solle unbedingt umdrehen und die große Panamericana fahren, da es deutlich sicherer wäre. Etwas verunsichert und deutlich alarmierter als zuvor, machte ich mich auf den Rückweg. Ich musste zwar einen 40km lagen Umweg in Kauf nehmen, der aber glücklicherweise ohne irgendwelche Zwischenfälle verlief.

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In „Popayan“ wurde ich von Camillo, Andrés jüngerem Bruder und dessen Mutter in Empfang genommen. Frau Ordonez, deren beiden anderen Söhne auf Reisen waren, freute sich über meinen Besuch und meinte, dass sie sich, in den Tagen in denen ich zu Besuch sei, wie eine Mutter um mich kümmern wolle. Was soll ich sagen, ich wurde festlich verwöhnt. Camillo zeigte mir die Stadt und führte mich umher.

Auch in „Popayan“ hatte ich ein Fernsehinterview mit einem lokalen Sender. Das besondere war, dass der Kameramann von meiner Geschichte so gerührt war, dass ihm die Tränen kamen. Er sagte mir, dass er sich darin wiedergefunden hätte, da er eine schlimme Jugend gehabt habe und ihm meine Geschichte Mut machen würde positiv auf seine Zukunft zu schauen. Auch wenn ich im Verlauf meiner Reise schon mehrere solcher Begegnungen hatte, berührt und motiviert mich das jedes Mal aufs Neue.

In den Tagen in „Papayan“ wurde ich durch einen Mageninfekt für ein paar Tage außer Gefecht gezogen. Camillo besuchte mit mir einige Ärzte und versorgte mich zusammen mit seiner Mutter. Ich war echt froh in diesen Tagen eine so tolle Unterkunft zu haben und mich komplett auskurieren zu können.

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Als es mir wieder besserging, machte ich mich auf den Weg nach „Pasto“, der Hauptstadt des südlichen Bundesstaates „Narino“. Hier veränderte sich die Natur spürbar und es ging in die Anden über. Ich hatte phantastische Ausblicke und durchfuhr wunderschöne Berglandschaften. Der einzige Wehmutstropfen war, dass sobald ein Berg überwunden war, es in ein tief eingeschnittenes Tal überging und anschließend ein noch viel höherer Berg folgte. Täglich überwand ich zwischen 1500 und 2000 Höhenmeter, was irgendwann echt zermürbend und extrem kräftezehrend war. So gerne ich die Herausforderung und Berge liebe, so sehr hat es mich zum Schluss angekotzt nach einem gemeisterten Anstieg, sofort mit dem Anblick des nächsten, noch höheren Berges „belohnt“ zu werden.

In Pasto wurde ich von Juan Carlos eingeladen. Seine Geschichte ist unfassbar traurig und zugleich berührend, sodass ich immer mehr denke, dass meine ganzen Begegnungen auf der Tour definitiv nicht zufällig passieren. Juan Carlos arbeitet im Sicherheitsdienst und bewachte vor drei Jahren eine große Fabrik. Mitten in der Nacht kamen maskierte Männer und bedrohten die Sicherheitsleute mit Waffen. Bevor sich diese zur Wehr setzten konnten, wurde Juan Carlos von 3 Kugeln in den Körper getroffen. Zwei weitere Schüsse verfehlten glücklicherweise seinen Kopf. Die zwei Streifschüsse hinterließen jedoch deutlich sichtbare Narben. Nachdem die Verbrecher abzogen, wurde Juan-Carlos ins Krankenhaus gebracht und notoperiert. Er überlebte gerade so, fiel jedoch über einen Monat ins Koma. Am Ende war er kurz davor zu sterben. Jose berichtete mir, dass er in der Zeit des Komas Stimmen wahrnehmen konnte. Kurz bevor er reanimiert wurde, habe er seinen Körper immer weniger wahrgenommen und sich, wie aus den Augen einer dritten Person betrachten können, erzählte er. Auf einmal wäre er in einem riesigen weißen Raum gewesen und habe ein Kreuz umrahmt von gleißendem Sonnenlicht gesehen. Er berichtete, dass er einen Druck auf seiner Schulter gespürt habe und sich entscheiden sollte zu dem Kreuz zu gehen. Er blickte jedoch wieder zu seinem Körper und war sich sicher, den Platz in seinem Körper wieder einnehmen zu können. Nachdem er diese Entscheidung getroffen hatte, fühlte er Schläge auf seiner Brust und wie sein Herz wieder zu schlagen begann. Im nächsten Moment sei er zu sich gekommen und lag, von Ärzten umringt, im Krankenhaus.

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Diese Geschichte klingt so verblüffend und ich hätte es nicht geglaubt, wenn er sie mir nicht persönlich erzählt hätte. Die Emotionen, die er beim Erzählen hatte, versetzen mir auch beim Schreiben erneut, eine Gänsehaut. Zum Schluss zeigte er mir noch sein Tattoo, dass er seitdem auf seinem Unterarm trägt und das Kreuz mit den Sonnenstrahlen zeigt. Das Leben von Juan Carlos hat sich seitdem komplett gewandelt. Er wurde sehr gläubig, ist für jeden Moment seines Lebens dankbar und verbringt so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie. Diese Geschichte ist für mich so berührend und beweist mir, wie dankbar wir sein dürfen, das Geschenk des Lebens bekommen zu haben. Vor allem zeigt es mir, wie wichtig es ist, bewusst zu Leben und das wirklich Essentielle nicht aus den Augen zu verlieren.

Kurz vor der Grenze Ecuadors führte mich mein Weg vorbei an der berühmten katholischen Klosterkirche und Pilgerstätte „Santuario de las Lajas“. In einer tiefen Schlucht liegt eine majestätisch anmutende Kirche, die einem Märchenschloss ähnelt. In der Nacht wird sie bunt beleuchtet und ist ein Anziehungspunkt für viele Pilger, Reisende und Touristen. Das war ein wirklich fantastischer Anblick.

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So geht es weiter!

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